Der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter ist für junge Menschen mit Spina bifida eine herausfordernde Zeit. Die Übernahme von immer mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit und die Loslösung von Elternhaus stellen viele Familien vor große Herausforderungen. Dieser Prozess der Transition fällt zudem zeitlich mit einem Übergang (Transfer) von der Kinder- und Jugendmedizin zur Erwachsenenmedizin zusammen. Was dies für die jungen Menschen und ihre Familien bedeutet und welche Möglichkeiten es gibt, in dieser Phase zu helfen, beleuchtete Alexandra Wattinger, Advanced practice nurse, Pflegeexpertin am Kinderspital Zürich und Koordinatorin des dortigen Sozialpädiatrischen Zentrums, die sich hiermit im Rahmen ihrer Masterarbeit auseinander gesetzt hat.

Bereits bei der Fachtagung in Fulda 2023 hatte sie zu diesem Thema vorgetragen. Nun wurde ihre Studie zur Masterarbeit veröffentlicht und steht kostenlos online zur Verfügung (Link zum Download siehe Ende des Berichts).

Viele der von Alexandra Wattinger interviewten Familien erleben diese Zeit als ausgesprochen belastend – als würde ihre Welt auf den Kopf gestellt; daher auch der Titel ihrer Arbeit.

Nicht nur die körperlichen und psychischen Veränderungen, die die Pubertät mit sich bringt, nicht nur der Verlust der vertrauten und in vielen Fällen auch behütenden Umgebung der Schule, sondern auch die Tatsache, dass das vertraute medizinischen Personal plötzlich nicht mehr zuständig sein kann und darf, bewirkt, dass die Betroffenen zum Teil zutiefst verunsichert sind. Viele Kinder verbringen im Laufe ihres Lebens sehr viel Zeit in „ihren“ Kliniken, bei „ihren“ Ärzten. Daher bildet die medizinische Versorgung zusammen mit der Familie und der Schule – so formuliert es eine Mutter, die Wattinger im Rahmen ihrer Studie interviewt hat – eine der Säulen, auf die sich das Leben des jungen Menschen stützt.

Die Frage, welches Behandlungszentrum das beste ist, das Abwägen von räumlicher Nähe und Erreichbarkeit gegen die Vorzüge eines spezialisierten Zentrums, bei der eine optimale Rundumversorgung gesichert ist, stellt Familien vor eine schwere Entscheidung, und sie wünschen sich hierfür umfassende Informationen sowie eine Spina bifida spezifische professionelle Begleitung.

Alexandra Wattinger fasst die Situation der Familien folgendermaßen zusammen: Transition und Transfer bedeuten, dass sich Eltern von jungen Erwachsenen mit Spina bifida in einem Spannungsfeld befinden. Sie wissen, wie wichtig die Übertragung der Selbstfürsorge auf das Kind ist, sorgen sich jedoch um die Gesundheit, sollte das Kind seine Pflege vernachlässigen. Sie wünschen sich einen Leitfaden, an dem sie sich orientieren können und eine qualifizierte Person, die diesen Prozess begleitet.

Ähnlich wie Wattinger die Situation für die Schweiz darlegt, sieht auch die Deutsche Gesellschaft für Transitionsmedizin die besonderen Herausforderungen beim Übergang jugendlicher Patienten mit chronischen Erkrankungen in die Erwachsenenversorgung. In ihrer Leitlinie legt sie dar, dass bis zu 40% dieser Patientengruppe in dieser Phase des Übergangs den Anschluss an eine entsprechende Spezialversorgung verlieren. Um dies zu verhindern, sollte spätestens mit dem Beginn der Pubertät begonnen werden, diesen Schritt einzuleiten. Die Transition sei dann gelungen, wenn „… der junge Erwachsene am Ende der Transitionsphase selber Experte für seine Gesundheit geworden ist“. Eltern sollen in Arztgesprächen mehr und mehr in den Hintergrund treten, während der jugendliche Patient nach und nach zum Hauptansprechpartner wird. Auch Arztgespräche ohne Eltern – besonders bei sensiblen Themen wie Sexualität oder Alkoholkonsum– sollen schon in der Übergangsphase ermöglicht werden.

Diese Selbstständigkeit zu erreichen, so geben die Autoren der Leitlinie zu, sei nicht immer einfach.

Mangelnde Koordination und Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren des Gesundheitssystems stelle sich häufig als ein Problem dar.

Wie nun lassen sich die Transition ins Erwachsenenalter und der Transfer in die Erwachsenenmedizin am besten bewerkstelligen?

Der Transitionsprozess sollte spätestens mit dem Beginn der Pubertät eingeleitet werden. Ab einem Alter von etwa 12 Jahren kann das Thema bei den Eltern und ihren betroffenen Kindern angesprochen werden. Ein Fragebogen zur Einschätzung der „Transitions Bereitschaft“ kann bei der Bewertung helfen, wo noch Förderbedarf besteht und wo Aufklärung oder professionelle Hilfe benötigt wird. So können die jungen Patient*innen immer stärker in die eigenen Gesundheitsfürsorge eingebunden werden. Kompetenz für die eigene Gesundheit zu erlangen ist wichtig, um für sich selbst Entscheidungen treffen zu können (z.B. Krankheitszeichen bemerken und einschätzen können, die eigene Gesundheitsversorgung zu koordinieren, die Pflegetätigkeiten selbst durchführen zu können etc.)

Dann müssen neue Ärzte/Spezialisten für die einzelnen Fachgebiete gefunden werden – idealerweise gebündelt in einem Behandlungszentrum (z.B. MZEB). Dann kann in einem „Übergabeprotokoll“ detailliert erfasst werden, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen es gibt, welche Pflegemaßnahmen in welchen Intervallen durchzuführen sind, inwieweit Pflege selbst übernommen wird, welche Hilfsmittel benötigt werden, welche Kontrolluntersuchungen regelmäßige erforderlich sind, welche Medikamente genommen werden etc. Diese Zusammenfassung des medizinischen Status kann dann die Grundlage für die weiterführende Behandlung bilden.

Sowohl die Leitlinie zur Transition als auch Alexandra Wattinger betonen die Bedeutung des Austauschs mit anderen Betroffenen. Familien, die den Transitionsprozess bereits durchlaufen haben oder Jugendliche, die bereit sind, als Ansprechpartner bereit zu stehen, können den Übergang erleichtern.

Ein früher Kontakt zu Selbsthilfegruppen kann da sehr hilfreich sein, besonders, wenn bereits zu Beginn der Transition ein Vertrauensverhältnis besteht.

Während der Transition sollen Gespräche zwischen übergebenden und übernehmenden Ärzten stattfinden (in der Leitlinie werden „Transitions Sprechstunden“ genannt, die gemeinsam von Kinderärzten und Ärzten der Erwachsenenmedizin durchgeführt werden sollen), und der gesamte Prozesses soll durch eine qualifizierte Person begleitet und koordiniert werden, die sowohl Ansprechpartner für die Familien, als auch für das übergebende und übernehmende medizinische Personal ist. Dies alles bedeutet eine große Herausforderung was die Koordinierung betrifft – und ist ohne großen persönlichen Einsatz der beteiligten Ärzte und Therapeuten wohl kaum zu leisten.

Alexandra Wattinger empfiehlt hier den Einsatz einer advanced practice nurse (APN) oder das Case Management. Unter APN versteht man eine Pflegekraft, die nach abgeschlossener Pflegeausbildung durch ein Studium weitere Qualifikationen auf verschiedensten Gebieten erworben hat. Dieser in Deutschland noch recht neue Studiengang schließt sich an eine Ausbildung in einem Pflegeberuf an. Auf wissenschaftlicher Basis sollen die Fähigkeiten für eine spezialisierte Pflegepraxis vermittelt werden (siehe Blogbeitrag zum Thema Follow-Up). Laut der Leitlinie könnte eine Begleitung auch durch Sozialarbeiter geleistet werden, die allerdings vermutlich nicht so gut über die medizinischen „Spezialanforderungen“ bei Spina bifida informiert sind.

Bereits seit 2009 gibt es das Berliner Transitionsprogramm. Hierbei wird von den Krankenkassen ein „Fallmanagement“ bezahlt, das den Jugendlichen im Übergang 1 ½ Jahre lang begleitet. Auch andernorts wird das Berliner Modell angeboten, z.B. vom Bunten Kreis Augsburg (Transitionsstelle Augsburg-Schwaben) oder in der Region Aachen von der Transitionstelle Aachen. Nach wie vor fehlen hier jedoch flächendeckende feste Strukturen, die sich an die Betreuung in sozialpädiatrischen Zentren anschließen.

Literatur und weiterführende Infos:

Alexandra Wattinger, Die Welt wird auf den Kopf gestellt, 2024 https://www.sb-akademie.ch/uploads/attachments/clwtbui0w0o26m3la3nzjftzg-wattinger-seliner-2024-die-welt-wird-auf-den-kopf-gestellt-wie-eltern-von-kindern-mit-spina-bifida-die-transition.pdf

Transition Worksheet (medizinischer Fragebogen): https://www.spinabifidaassociation.org/resource/transition-discharge-worksheet/).

Monatsschriften Kinderheilkunde Mai 2020: Ein strukturierter Versorgungspfad von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer seltenen Erkrankung, Corinna Grasemann et al. https://link.springer.com/article/10.1007/s00112-020-00929-5

Leitlinie zur Transition von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin: https://register.awmf.org/assets/guidelines/186-001l_S3_Transition_Paediatrie_Erwachsenenmedizin_2021-04-verlaengert.pdf

Fragebogen zur Transitionsbereitschaft auf Englisch: https://picnh.org/wp-content/uploads/2023/01/TRAQ-readiness-assessment.pdf, auf Deutsch, erstellt vom Bündnis Nationaler Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) zum Beispiel hier: https://centrum-seltene-erkrankungen-ruhr.de/wp-content/uploads/2020/03/4-Transitionsfragebogen.pdf.

Rague, Kim, Hirsch et al., Assessment of Health Literacy and Self-reported Readiness for Transition to Adult Care Among Adolescents and Young Adults With Spina Bifida

https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8479582

Gabriele Hartmann et al., Transition und Transfer bei seltenen chronischen Erkrankungen, https://www.researchgate.net/publication/369596503_Transition_und_Transfer_bei_seltenen_chronischen_Erkrankungen

S. Müther, Burkhard Rodeck et al., Transition von Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen in die Erwachsenenmedizin, Abstract: https://www.researchgate.net/publication/271924103_Transition_von_Jugendlichen_mit_chronischen_Erkrankungen_in_die_Erwachsenenmedizin

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