Prof. Dr. Raimund Stein ist Leiter des Zentrums für Kinder-, Jugend- und rekonstruktive Urologie an der Universitätsklinik Mannheim. Er berichtete auf der Tagung des wissenschaftlichen Beirats der ASBH in Fulda über die urodynamische Untersuchung bei Säuglingen.
Nur ein sehr kleiner Anteil der Neugeborenen mit Spina bifida hat keine Funktionsstörung des unteren Harntraktes. Vor allem in den ersten Lebensjahren kommt es häufig zu Problemen, wenn dies nicht bemerkt und entsprechend behandelt wird. Chronisches Nierenversagen ist daher im Erwachsenenalter trotz verbesserter Pflege und Aufklärung häufig. In diesem Zusammenhang erwähnte Dr. Stein das UMPIRE-Protokoll (urologic management to preserve renal function): Da Kinder, die mit einer MMC (Myelo-Meningo-Cele →Spina bifida) geboren werden, ein großes Risiko für eine chronische Nierenerkrankung haben, ist es unbedingt notwendig, die Blasensituation von Geburt an zu beobachten und entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten. Einheitliche Behandlungsstandards einzuführen und entsprechende Leitlinien festzusetzen ist essentiell für den Erhalt der Nierenfunktion bei Menschen mit Spina bifida.
Die Untersuchung, die die Blasensituation erfasst und somit als Grundlage für die weiteren Therapien dient, ist die Urodynamik.
Zur Erklärung hier zunächst ein kleiner Exkurs: Bei einer Urodynamik Untersuchung wird über einen
Messkatheter isotonische Kochsalzlösung in die Blase eingebracht. Der Katheter misst dabei den Druck, der in der Blase herrscht. Ein weiterer Messkatheter im After misst den Druck im Bauchraum (Abdominaldruck), und über Klebeelektroden wird die Aktivität der Beckenbodenmuskulatur überwacht (Beckenboden EMG).

Eigene Abbildung zur Veranschaulichung ohne weiteren medizinischen Aussagewert:
Am Ende einer Urodynamik Untersuchung erhält man das Ergebnis in Form einer Gegenüberstellung verschiedener Messkurven
Während die körperwarme Flüssigkeit langsam in die Blase geleitet wird, werden die Druckverläufe jeweils als Kurve aufgezeichnet. Das sieht ungefähr so aus, wie in diesem Symbolbild dargestellt.
Von oben nach unten zeigen die Kurven in der Abbildung den „Intravesikalen Druck“ (Druck=pressure=P, daher Pves), also den Druck im untersuchten Gefäß, in diesem Fall in der Blase. Darunter (Pdet) ist der Druck des Detrusors, des großen Blasenmuskels dargestellt. Dieser wird nicht separat gemessen sondern aus der Differenz zwischen intravesikalem und abdominalem Druck berechnet), dann den Druck im Bauchraum (“Abdomen“; Pabd), ermittelt über den Messkatheter im Rektum, dann die Aktivität des Beckenbodens (EMG), gemessen über die Klebeelektroden, darunter den Urinverlust (Qura) und ganz unten schließlich die Kurve, die die eingeleitete Flüssigkeit zeigt (Vin). Darunter befindet sich ein Zeitstrahl, der die Untersuchungsdauer in Minuten dokumentiert.
Zu den Einheiten bei der Urodynamik Untersuchung
cmH2O: Einheit um den Druck anzugeben; 1 cmH2O entspricht dem Druck, der durch eine 1 Zentimeter hohe Wassersäule erzeugt wird.
uV: die Spannung, die bei der Elektromyografie (EMG) durch die Oberflächenelektroden an den Muskeln gemessen wird, angegeben in Mikrovolt = uV, eigentlich μV.
ml/s: bei der Messung des Urinverlusts wird die Menge (Milliliter) ins Verhältnis zur Zeit (Sekunden) gesetzt. Dadurch kann auch ein Wert für die Stärke des Urinstrahls ermittelt werden.
Bei Säuglingen und kleineren Kindern wird die Untersuchung im Liegen durchgeführt, bei älteren Kindern und Erwachsenen im Sitzen auf einem besonderen Stuhl (ähnlich einem Toilettenstuhl). Dort wird der Urin unten aufgefangen und gemessen (siehe Kurve Qura). Auf diese Weise kann auch die Stärke des Harnstrahls bestimmt werden.
Am Verlauf der während der Untersuchung aufgezeichneten Kurven kann man nun abgelesen, ob die Blase z.B. überaktiv ist. In der entsprechenden Kurve (Pdet) würde sich die Aktivität dann als Spitzen oder Zacken in der Linie zeigen. Auch die Dehnfähigkeit der Blase („compliance“) kann hier abgelesen werden.

Symbolbild: Compliance der Blase als Zuordnung von Blasendruck und Blasenvolumen;
unten die unterschiedlichen Steigungen in den Abschnitten der Kurve A-E
Bei einer gesunden Blase bleibt der Druck während des Füllvorganges gleich – egal ob 5 oder 500ml darin sind. Eine wenig elastische Blase zeigt sich daran, dass der Druck beim Füllen rasch ansteigt. Daraus lassen sich auch Rückschlüsse auf das Volumen der Blase ziehen. In der Entleerungsphase der Untersuchung zeigt sich schließlich, wie gut sich der große Blasenmuskel (Detrusor) wieder zusammenziehen kann („Kontraktibilität“). Alle Messungen dienen dazu, das Risiko einer Schädigung von Blase und Nieren abschätzen. Den Druck, der sich in der Blase aufbaut, bevor Urin austritt wird als „Leak Point Pressure“ bezeichnet. Liegt er über 40 cmH2O kann es ohne Behandlung zu Nierenschäden kommen.
Dasselbe gilt, wenn die Blase nicht ausreichend dehnbar ist. Bei einer Compliance von weniger als 10ml/cmH2O ist die Funktion der Nieren gefährdet. Die Dehnfähigkeit der Blase wird bestimmt, indem man die Zunahme des Blasenvolumens in Beziehung zum Blasendruck setzt.
Dr. Stein wies allerdings auf ein Problem bei der Interpretation der bei der Untersuchung gewonnenen Werte hin: Die Steigungen an verschiedenen Stellen der Kurve sind zum Teil sehr unterschiedlich. Welcher Kurvenabschnitt nun zur Ermittlung der Steigung (hier: der Druckzunahme zu einem Zeitpunkt der Untersuchung) betrachtet werden soll, ist entscheidend für das Ergebnis. Hier könne der Einsatz von künstlicher Intelligenz bei der Auswertung von Vorteil sein. Auch der „Leak Point Pressure“ wäre übrigens in einem solchen Diagramm wäre in einem solchen Diagramm ablesbar (das Maximum bevor die Kurve wieder abfällt) ebenso der Restharn (=Flüssigkeitsvolumen in der Blase nach dem Ende der Entleerung).
Wenn der große Blasenmuskel und der Blasenschließmuskel gegen einander arbeiten, nennt man das eine Detrusor-Sphinkter Dissynergie. Dies ist bei etwa 72% der Menschen mit Spina bifida der Fall, und gefährdet die Gesundheit der Nieren. Der Urin kann nicht aus der Blase fließen und staut sich in die Nieren zurück.
Zusätzlich zur Druckmessung kann bei der Urodynamik auch eine Röntgenaufnahme der Blase gemacht werden (Video Urodynamik). Dazu wird nicht nur Wasser in die Blase gegeben sondern auch ein Kontrastmittel. Die Bildgebung kann dann z.B. den Rückfluss von Urin aus der Blase in die oberen Harnwege und die Nieren (Reflux) sichtbar machen. Die Strahlenbelastung und der Erkenntnisgewinn müssen jedoch gut gegeneinander abgewogen werden. Wichtiger als die Bildgebung sei es, so Dr. Stein, die Drucksituation festzustellen, um eine entsprechende Therapie einleiten zu können.
Bezüglich der urodynamische Untersuchung der Blase bei Säuglingen wies Dr. Stein auf verschiedene Schwierigkeiten hin. „Artefakte“, also irreführende Messwerte, können bei der Untersuchung allein aufgrund der ungewohnten Situation (fremde Menschen, Angst…) entstehen. Die Temperatur der Flüssigkeit sowie die Geschwindigkeit, mit der die Blase gefüllt wird, können das Ergebnis stark beeinflussen. Ein Miktionstagebuch, in dem die Eltern Trink- und Urinmengen des Kindes protokollieren, kann bei der Planung und Durchführung der Untersuchung sehr hilfreich sein und dem Arzt eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Blase und dem zu erwartenden Blasenvolumen vermitteln. Werden häufig kleine Mengen Urin ausgeschieden (oder katheterisiert), kann der Arzt davon ausgehen, dass das Blasenvolumen eher klein ist und die Untersuchung entsprechend durchführen.
Zwar gibt es auch eine Untersuchungsmethode, bei der keine Flüssigkeit in die Blase eingebracht wird, sondern die Situation unter „natürlichen Bedingungen“, also im Verlaufe der natürlichen Füllungsphase, beobachtet wird. Da hierbei jedoch der Messkatheter von außen durch die Bauchdecke (suprapubisch) in die Blase gelegt werden muss, hat auch die Methode des „natural filling“ ihre Nachteile: der Aufwand ist groß, der Untersuchungszeitraum lang, und auch hier kann grundsätzlich nicht von einer „natürlichen Situation“ für das Kind gesprochen werden.
Damit bleibt die Urodynamik das wichtigste Instrument, um Therapieentscheidungen zu treffen.
Folgende Punkte betonte Dr. Stein noch am Ende seines Vortrags:
- frühzeitig (möglichst noch im ersten Lebensjahr) eine Urodynamik durchführen
- das Ergebnis der Urodynamik entscheidet über folgende Untersuchungsintervalle
- nach neurochirurgischen Operationen wie der Lösung eines tethered cord muss erneut eine Untersuchung erfolgen, um den Status festzustellen
- die Kurven gut anschauen und sorgfältig interpretieren
- darauf achten, dass die Untersuchung so durchgeführt wird, dass Artefakte möglichst nicht auftreten (Füllgeschwindigkeit! Temperatur der Flüssigkeit!)
- den ganzen Menschen betrachten
Weitere Informationen und Hintergründe zum Thema findet ihr hier:
Urologielehrbuch: https://www.urologielehrbuch.de/urodynamik.html
Information mit Schaubild zu Aufbau und Ablauf der Untersuchung: https://www.usz.ch/fachbereich/urologie/angebot/urodynamik/
Leitlinie Urodynamik:https://www.unimedizin-mainz.de/fileadmin/kliniken/ur/Dokumente/Konsensusartikel_Meningomyelozele/Leitlinie_MMC.pdf
Zum Thema UMPIRE: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11008495/