Überblick
Wenn es um die Entscheidung geht, ob Eltern, die ein Kind mit Spina bifida erwarten, sich für eine vor- oder nachgeburtliche Operation ihres Kindes entscheiden sollten, wird immer wieder die sogenannte MOMS-Studie (Management of myelomeningocele study, veröffentlicht 2011, ) erwähnt. Auf der Homepage des children’s hospital of Philadelphia (eines der drei seinerzeit an der ersten MOMS Studie beteiligten medizinischen Zentren) findet sich auch der Link zur Folgestudie MOMS 2 sowie ein Ausblick auf „MOMS 3“, eine derzeit geplante Studie, die die weitere Entwicklung im Alter von 15 bis 24 Jahren abbilden soll.
In diesen Untersuchungen, die ausschließlich Fälle in den USA betrachteten, wurden die Ergebnisse von vor- und nachgeburtlichen Operationen bei anfangs 183 Patienten gegenübergestellt. Man beobachtete, dass 11/2 Jahre nach der Geburt bei den pränatal versorgten Kindern die Shuntrate geringer und die sensorischen und motorischen Fähigkeiten der Beine besser waren, sowie dass die Ausprägung der Chiari 2 Fehlbildung sich verbessert hatte. Das tatsächliche Lähmungsniveau lag bei den vorgeburtlich operierten Kindern um zwei Ebenen über dem, was von der Lage des Defekts her zu erwarten gewesen wäre.
Die vorgeburtliche Operation vergrößerte allerdings das Risiko einer Frühgeburt mit allen damit verbundenen gesundheitlichen Problemen für Mutter und Kind. In MOMS 1 kamen die Forschenden zu dem Schluss, dass Risiken und möglicher Nutzen einer pränatalen Operation gründlich gegeneinander abgewogen werden müssen.
Im Laufe der Jahre wurden neue Operationsmethoden etabliert. In unserem Artikel über pränatale Operation bei Spina bifida wurde schon im Rahmen der Tagung des wissenschaftlichen Beirats der ASBH in Fulda 2023 darüber berichtet.
Erfahrungen der Uniklinik Heidelberg
In diesem Jahr (2025) erschien im European Journal of Paediatric Neurology ein Artikel über die Erfahrungen nach 16 minimalinvasiven pränatalen Operationen bei Kindern mit Spina bifida, die von einem Ärzteteam am Universitätsklinikum Heidelberg im Zeitraum von 2016 bis 2024 behandelt worden waren.
Die offene mikrochirurgische Operationsmethode, so berichten die Autoren, sei noch immer der „Goldstandard“ bei der Versorgung von Spina bifida, allerdings sei in den letzten Jahren die fetoskopische Methode hinzu gekommen und verbessert worden, die ebenfalls sehr viel versprechende Ergebnisse zeige.
Seit 2016 wurde an der Universitätsklinik Heidelberg ein interdisziplinäres Programm etabliert, das diese Behandlung in Deutschland anbietet. Die Operationsmethode, die hier angewendet wurde, ist die sogenannte „Hybridmethode“. Hierbei wird durch einen Bauchschnitt die Gebärmutter freigelegt. Die Operation des Fötus erfolgt dann minimalinvasiv.
Die Ergebnisse dieser Behandlungen hat das Team der Universitätsklinik Heidelberg über acht Jahre lang verfolgt. Eine Auswertung erfolgte hinsichtlich
- der Komplikationen bei Mutter und Kind während und unmittelbar nach der Geburt,
- der Ausprägung der Kleinhirnfehlbildung vor und vier Wochen nach der Geburt,
- der Hydrocephalus Shuntrate direkt nach der Geburt und im Verlauf der folgenden zwei Jahre
- der Blasenkontrolle im Alter von vier Jahren sowie
- der Gehfähigkeit mit oder ohne Orthesen ab dem Alter von drei Jahren.
Verlaufskontrollen dieser Gruppe erstreckten sich über einen Zeitraum von 4 Monaten bis 8 Jahren.
Komplikationen
Die Heidelberger Mediziner berichten, dass es bei keiner der operierten Mütter zu Komplikationen während der Geburt kam. Allerdings kam 1/4 der Kinder (4 von 16) in oder bereits vor der 30. Schwangerschaftswoche zur Welt. In diesen Fällen war es zu einem vorzeitigen Blasensprung gekommen. Bei einem der Kinder musste direkt nach der Geburt nachoperiert werden, weil die Abdeckung des Rückens nicht dicht war und Hirnflüssigkeit austreten konnte.
Hirnfehlbildungen und Hydrocephalus
Hinsichtlich der Chiari-Fehlbildung war zu beobachten, dass im Vergleich zum Zustand vor der Operation bei 11 der 16 Kinder ein Rückgang der Fehlbildung zu beobachten war. Auch benötigten lediglich 5 der Kinder innerhalb der ersten zwei Lebensjahre einen Shunt, was im Vergleich zur nachgeburtlichen Versorgung bei Spina bifida eine große Verbesserung darstellt. Bereits die MOMS-Studie hatte dies gezeigt, und auch Berichte aus anderen Zentren, in denen Spina bifida vorgeburtlich behandelt wird, spiegeln, so die Autoren, dieses Ergebnis wider.
Gehfähigkeit
Das eigenständige Gehen mit oder ohne Orthesen wird in der Studie als sehr zentraler Aspekt der Lebensqualität bezeichnet. Beurteilt wurde dies im Alter von drei Jahren. Hier konnten nur für 10 der ursprünglich 16 Kinder der untersuchten Gruppe Ergebnisse ermittelt werden, da vier Kinder nicht mehr zu den Nachuntersuchungen vorgestellt worden waren und zwei weitere zum Abschluss der Studie noch zu jung waren.
Sieben dieser zehn Kinder waren im Alter von drei Jahren in der Lage, mit oder ohne Orthesen selbstständig zu gehen. Das Ergebnis deckt sich mit denen der MOMS Studie. Allerdings betonen die Forscher, dass in der von ihnen untersuchten Gruppe die Läsionen sehr hoch lagen (bei 11 Kindern der ursprünglichen Gruppe an oder oberhalb des 4. Lendenwirbels) und die Kinder bei postnataler Operation vermutlich von vorn herein weniger gute Chancen gehabt hätten, das freie Gehen zu erlernen.
Urologische Situation
Die Blasenfunktion wurde im Alter von vier Jahren beurteilt. Die Bewertungsgrundlage bildeten Ultraschall, Manometrie, Urodynamik und Aufzeichnungen in einem Blasentagebuch.
Hinsichtlich der Blasensituation ergaben die urodynamischen Befunde bei einem der Kinder normale Ergebnisse. Dies ist jedoch insgesamt bei Kindern mit Spina bifida extrem selten. Um hier aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, sei die Anzahl der in der Studie berücksichtigten Fälle nach Aussage der Heidelberger Mediziner jedoch zu niedrig. Alle anderen Kinder benötigten Medikamente für die Blase und wurden katheterisiert um die Blase entleeren zu können. Auch beim Darmmanagement war diese Gruppe auf Hilfsmittel angewiesen.
Geistige Entwicklung
Lediglich bei sechs Kindern erfolgte eine Einschätzung der geistigen Entwicklung auf der Grundlage des pädiatrischen Entwicklungstests nach Bayley. Hierbei werden geistige und motorische Fähigkeiten sowie das Verhalten in kindgemäßen Tests eingeschätzt. Zur Interpretation der Testung: Werte zwischen 85 und 114 Punkten werden als durchschnittlich angesehen, Werte zwischen 84 und 70 als leicht unterdurchschnittlich und Werte unter 69 als deutlich unterdurchschnittlich. Aufgrund der geringen Größe der Gruppe ist die prozentuale Verteilung, die in der Veröffentlichung beschrieben wird, etwas schwierig zu interpretieren (6 Kinder, 67% bei mehr als 84 Punkten, 17% zwischen 84 und 70, 16% unter 70), es scheint jedoch so zu sein, dass über die Hälfte der getesteten Kinder in ihren Fähigkeiten dem Durchschnitt entspricht.
Inklusionszysten
Ein Risiko, das die intrauterine Operation bei Spina bifida mit sich bringt, sind Verwachsungen von Schleimhautgewebe und anderen Hautschichten. Durch die Operation gelangen Zellen, die aus der Hautschicht stammen, die eigentlich das Gewebe nach außen hin abgrenzt, nach innen. Das Wachstum dieser Zellen („Inklusionszyste“) kann im weiteren Verlauf zur Schädigung der Nervenzellen führen, und in der Folge einer nötigen weiteren Operation kann es zu einer Verschlechterung der neurologischen Situation kommen.
In Untersuchungen, die die Entwicklung nach vorgeburtlichen Operationen verfolgt haben, wird diese Schädigung als so gravierend eingestuft, dass sie als „third hit“ bezeichnet wird.
Zu verringern sei das Risiko der Bildung solcher Einschlüsse dadurch, dass bei der Operation die entsprechenden Gewebsschichten sauber voneinander getrennt werden. In der vorliegenden Studie traten bei drei der 16 Patienten Inklusionszysten auf, aber lediglich in einem Fall musste nachoperiert werden.
Meta Studie
Für den Vergleich der drei pränatalen Operationsmethoden
- offene Operation: Bauchschnitt und öffnen der Gebärmutter,
- hybride Methode: Bauchschnitt mit anschließender fetoskopischer Operation und
- minimalinvasiv fetoskopisch: Operation minimalinvasiv durch die Bauchdecke der Mutter
und zur Einordnung ihrer eigenen Ergebnisse berufen die Heidelberger sich auf drei Studien aus den Jahren 2018, 2020 und 2021, die sich mit den Risiken und Möglichkeiten der jeweiligen Methoden befasst haben.
Den Autoren zufolge zeigt die Studienlage keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Risikos für Hydrocephalus. Bei allen drei vorgeburtlichen Operationsmethoden war die Hydrocephalus Rate gleichermaßen gering.
Die komplett endoskopische Methode zeigt ein höheres Risiko für frühen vorzeitigen Blasensprung und Frühgeburten. Bei der Hybridmethode ist im Vergleich dazu das Risiko für eine Frühgeburt geringer.
Bei beiden fetoskopischen Methoden liegt ein größeres Risiko dafür vor, dass nach der Geburt Hirnflüssigkeit austritt (d.h. die Läsion am Rücken nicht dicht ist) und nachoperiert werden muss.
Dem gegenüber ist bei der offenen OP-Methode das Risiko einer Verletzung der Gebärmutter größer.
Beide fetoskopischen Methoden ermöglichen eine Spontangeburt und stellen auch ein geringeres Risiko für Komplikationen in Folgeschwangerschaften dar.
Ergebnis
Die Autoren kommen daher zu dem Ergebnis, dass die vorgeburtliche Chirurgie bei Spina bifida aperta als eine Standardtherapieoption angesehen werden sollte, da die meisten Patienten von der offenen pränatalen Intervention erheblich profitierten könnten. Nach wie vor sei die offene pränatale Operation bei Spina bifida der „Goldstandard“, da für die beiden anderen Methoden die Ergebnisse der Beobachtung über einen längeren Zeitraum noch ausstehen. Die Voraussetzung sei jedoch, dass die Operation in entsprechenden hochspezialisierten Zentren von einem erfahrenen Ärzteteam durchgeführt werde.
Ausblick
Als Ausblick auf die zukünftige Behandlungsmöglichkeit bei Spina bifida sprechen die Forscher der Uniklinik Heidelberg die Stammzellentherapie an. Stammzellen werden aus dem Knochenmark gewonnen und haben die Fähigkeit, sich zu verschiedensten Zellen zu entwickeln. Versuche, dies bei der Behandlung von Spina bifida bei Ratten einzusetzen, sind bereits erfolgt. Stammzellen, die in die Fruchtblase injiziert werden, könnten sich positiv auswirken und vielleicht sogar bei der Heilung helfen – allerdings müsse, so die Autoren, hierzu noch weiter geforscht werden.