Ich durfte in diesem Jahr zum zweiten Mal an der Wissenschaftlichen Tagung der ASBH in Fulda teilnehmen und möchte hier über meine persönlichen Eindrücke und „highlights“ berichten – und zwar aus meiner Perspektive als Mutter eines Kindes mit Spina bifida und Hydrocephalus und ohne medizinische Kenntnisse, die über das Expertenwissen hinausgehen, das man sich zwangsläufig mit der Zeit aneignet, wenn das eigene Kind oder man selbst von dieser Behinderung betroffen ist.

Den vierten und letzten großen Themenkomplex der Tagung könnte man unter der Überschrift „Erwachsenwerden und älter werden mit Spina bifida“ zusammenfassen. Er beleuchtete neben dem wichtigen Thema Transition die Langzeitverläufe und Risiken bei Erwachsenen / älteren Menschen mit Spina bifida und Hydrocephalus.

Dr. Angela Brentrup, Leiterin der pädiatrischen Neurochirurgie der Uniklinik Münster, stellte hier zu Beginn ein Projekt vor, bei dem Daten („von der Locke bis zur Socke“) von Menschen mit Spina bifida erfasst werden sollen. Dadurch könnte die Behandlung und Beratung entscheidend verbessert werden. In Nordamerika gibt es mit dem North American Fetal Therapy Network (NAFTNet) bereits einen Zusammenschluss von Behandlungszentren, dessen Ziel es ist, interdisziplinär Wissen zu sammeln und Zusammenarbeit und Forschung (nicht nur für Neuralrohr Defekte sondern auch für andere fetale Fehlbildungen) zu fördern.

Am Kinderspital Zürich werden Kinder und Jugendliche mit Spina bifida bis zum 18. Lebensjahr betreut. Alexandra Wattinger, die als Pflegeexpertin des dortigen Spina bifida Zentrum tätig ist (https://www.kispi.uzh.ch/kinderspital/person/wattinger-mscn-alexandra) und eine Masterarbeit zum Thema Transition bei Spina bifida verfasst hat, berichtete, dass die Transition nur bei etwa der Hälfte der Betroffenen gut gelingt. Dass Heranwachsende die Verantwortung für die eigene Gesundheitsvorsorge selbst übernehmen, ist für beide Teile (Eltern wie Kinder) sehr schwierig. Wenn dieser Übergang von Pflege Expert*innen begleitet werde, falle es zum einen den Eltern leichter, Verantwortung abzugeben, zum anderen wird dadurch verhindert, dass behandlungsbedürftige Symptome übersehen und Krankheiten verschleppt werden. Der in Deutschland noch recht neue Studiengang zur Advanced Practice Nurse (APN) baut auf eine Ausbildung in einem Pflegeberuf auf und dient dazu, auf wissenschaftlicher Basis die Fähigkeiten für eine spezialisierte Pflege-Praxis zu vermitteln (Infos z.B. unter https://www.pflegestudium.de/studiengaenge/advanced-nursing-practice/). Bislang ist die Versorgung durch solche Expert*innen eher im Bereich der stationären Versorgung angesiedelt. Die Beschäftigung von APN in der ambulanten Pflege könnte hier zu einem besseren Gelingen der Transition beitragen.

In der Diskussion wurde noch einmal auf einen Vortrag aus dem vergangenen Jahr hingewiesen: Olivia Clark, derzeit Doktorandin an der Loyola University Chicago (Abteilung Psychologie) hatte über die CHATS-Studie (Chicago Healthy Adolescent Transition Study) berichtet, in der 140 Kinder und Jugendliche mit Spina bifida und ihre Familien begleitet und befragt worden waren. Zu diesem Thema wird es hier im Blog einen weiteren Artikel geben – nach Veröffentlichung der Masterarbeit von Alexandra Wattinger.

Dr. Dieter Class beleuchtete die Langzeitverläufe aus neurochirurgischer Sicht. Er leitet die neurochirurgische Abteilung an der Universitätsklinik Magdeburg und stellte dar, dass 1985 kaum mehr als die Hälfte der mit einer Spina bifida geborenen Kinder ihr erstes Jahr überlebten (die Hauptursache hierfür ist wohl beim Hydrocephalus zu sehen, dessen operative Versorgung überhaupt erst in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann). Inzwischen erreichten 85% das Erwachsenenalter. Das Krankheitsbild bei Spina bifida sei so komplex, dass eine Veränderung im Zustand eines der betroffenen Bereiche, also Hydrocephalus, Blase und Darm, Chiari II Malformation, Syringomyelie (liquorgefüllte Hohlräume im Rückenmark meist im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule), nicht ohne Auswirkung auf die jeweils anderen bleibe. Aus neurochirurgischer Sicht sei daher eine angemessene Primärversorgung entscheidend für einen positiven Langzeitverlauf bei Spina bifida: also regelmäßige augenärztliche, urologische und orthopädische Kontrolluntersuchungen. Zur Befunderhebung sei das MRT dem CT in jedem Fall vorzuziehen, um die Strahlenbelastung möglichst gering zu halten.

An dieser Stelle gab es noch einmal einen kleinen Exkurs zur Bildgebung: Beim Themenkomplex Hydrocephalus war ja bereits die „Bildgebungsgläubigkeit“ zur Sprache gekommen, aber auch den umgekehrten Fall gibt es: ein tethered cord zum Beispiel sei als Bildbefund gewissermaßen immer vorhanden, aber nur beim Auftreten von Symptomen wie zum Beispiel Rückenschmerzen, Schwäche, Spastiken, Gefühlsstörungen, Skoliosen und Verformungen an den Füßen entsteht (Be-) Handlungsbedarf.

Prof. Dr. Stephan Martin, ärztlicher Leiter des MZEB im DIAKOVERE Annastift Hannover, beleuchtete den Prozess des Älterwerdens aus orthopädischer Sicht. Er stellte zu Beginn dar, dass die Orthopädie der Neurologie folgt. Das heißt, dass eine Verschlechterung z.B. der Gehfähigkeit in der Regel neurologische Ursachen hat und die Therapie von dieser Seite her erfolgen muss. Zudem sei auch für ihn als Orthopäden die Gesundheit der Haut von sehr großer Bedeutung. Die Folgen von Dekubitus, Stauungsdermatitis (Läsionen/Exzeme an den Unterschenkeln, die durch Venen-Insuffizienz hervorgerufen werden) und Pilzinfektionen seien viel bedrohlicher für die Betroffenen, sodass eine regelmäßige, gründliche Kontrolle der Haut im Grunde wichtiger sei als regelmäßige Röntgenkontrollen der orthopädischen Situation. Menschen mit eingeschränkter Sensibilität sind hier besonders gefährdet. Bleiben Hautläsionen im Bereich des Gesäßes oder der Füße unbemerkt, ist die Behandlung später meist sehr langwierig. Amputationen sind nicht selten die Folge. Regelmäßig die Passform der Orthesen und über eine Sitzdruckmessung die Belastung im Rollstuhl zu überprüfen, muss daher immer Teil einer orthopädischen Untersuchung sein.

Hierzu wurde noch einmal darauf hingewiesen, dass Menschen mit Spina bifida seit ein paar Jahren einen Rechtsanspruch auf podologische Behandlung haben, auf dem sie gegenüber ihrer Krankenkasse auch bestehen sollten.

Prof. Dr. Raimund Stein von der Universitätsmedizin Mannheim bildete mit seinem Vortrag zum Thema „Urologisches Follow-Up bei Jugendlichen und Erwachsenen – was ist wichtig?“ den Abschluss dieses zweiten und letzten Tages. Er fügte der Checkliste der bei Spina bifida lebenslang erforderlichen „Inspektionen und Wartungsarbeiten“ die urologischen Kontrollen hinzu. Ein Handwerkszeug, dass hierbei helfen kann, ist ein Miktionstagebuch. Hier werden Katheterintervalle, Trinkmengen, Medikation und Informationen zum Darmmanagement eingetragen. Zum einen hilft dies, den Überblick zu behalten und kann zum anderen bei der Ursachenforschung helfen, wenn Probleme auftauchen. Ähnlich wie seine Vorredner*innen betonte auch Dr. Stein die Bedeutung einer fortgesetzten interdisziplinären Begleitung.

Was sich wie ein roter Faden durch diesen Themenbereich sowie durch die ganze Tagung zog, möchte ich hier als mein persönliches Fazit festhalten:

Nur wenn alle an einem Strang ziehen, sich unter einander vernetzen, wenn es eine gute Kommunikation zwischen Betroffenen, Angehörigen, Therapeuten und Ärzten der verschiedenen Disziplinen gibt, kann die Versorgung von Menschen mit Spina bifida ein Leben lang gelingen. Die Selbsthilfe kann hier einen sehr wichtigen Beitrag leisten und möglichst niederschwellig Gelegenheit zum Austausch geben, Wissen vermitteln, Kontakte herstellen und immer wieder auf die Belange von Menschen mit Spina bifida aufmerksam zu machen.

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