Bericht zum Vortrag von Prof. Dr. Stephan Martin zum Thema „Die Schulter – der Motor des Rollstuhlfahrers“ auf dem ASBH-Kongress in Weimar, 20.03.2024

Die menschliche Schulter ist – so viel ist sicher – nicht für den Antrieb eines Rollstuhls vorgesehen. Nicht Druck- sondern Zugbelastungen sind ihre Spezialität: das Hangeln und Schwingen an Ästen und der Transport von Getränkekästen sind ihre Kernkompetenz und (zumindest der Hangel-Aspekt) in der Evolution begründet.

Das Anschieben eines Rollstuhls – im Durchschnitt ca. 2-3000mal pro Tag – und die damit einhergehende Druckbelastung im Schulterdach jedoch nicht. Zwischen dem Oberarmkopf und dem Schulterdach verlaufen Muskeln (die Rotatorenmanschette, eine Gruppe von Muskeln und Sehnen, die das Schultergelenk stabilisieren). Wenn der Oberarmkopf in der Schulter nach oben gedrückt wird, kommt es zum Anschwellen des Gewebes in diesem Bereich, wodurch der Raum noch enger wird und die Beschwerden sich verschlimmern. Die hierdurch verursachte chronische Überbelastung, auch Repetitive Strain Injury genannt, führt dazu, dass bei etwa 50% aller Rollstuhlfahrenden im Durchschnitt nach 10 Jahren die ersten Beschwerden in der Schulter auftreten.

Um Folgeschäden durch die Über- und Fehlbelastung möglichst gering zu halten ist eine kompromisslose Optimierung des Rollstuhls absolut unumgänglich.

Dazu gibt es feste Größen, die es zu beachten gilt: Zwischen 100° und 120° sollte der Winkel des Ellenbogens sein, wenn die Hand oben auf dem Greifring aufliegt. Die Schulter sollte hierbei direkt über der Radnabe sein, bei herabhängendem Arm sollte sich der Mittelfinger der ausgestreckten Hand möglichst direkt über der Achse befinden.

Leider ist es nur allzu oft so, dass sich der Mensch an den Rollstuhl anpasst. Kinder zum Beispiel wachsen langsam aus ihren Rollis heraus, lernen aber die schleichende Verschlechterung der Ergonomie zu kompensieren. Auch Erwachsene gewöhnen sich die Gegebenheiten – empfinden es vielleicht sogar als praktisch, dass sie wegen der niedrigen Sitzhöhe Dinge vom Boden aufheben, oder wegen der Breite des Sitzes noch bequem die Handtasche neben sich stellen können. Gesund und der Mobilität dienlich ist dies jedoch nicht.

Kinder und Jugendliche Rollifahrer haben in der Regel noch keine Schmerzen, daher sind hier oft andere Aspekte, wie Praktikabilität beim Transport oder Umsetzen, wichtiger. Damit sie aber noch weitere 60 Jahre im Rollstuhl aktiv bleiben können, muss man schon früh damit beginnen, das Hilfsmittel individuell anzupassen.

Was mit einem perfekt angepassten Rollstuhl alles möglich ist, zeigte Dr. Martin anhand von Videoschnipseln des bekannten amerikanischen Rollstuhlsportlers Aaron „Wheelz“ Fotheringham. Dieser beeindruckende junge Mann lebt mit Spina bifida und beherrscht den Backflip, Doppel-Backflip und Front-Flip – Kunststücke, die er sich bereits als Kind von den BMX-Rad fahrenden Freunden seines Bruders abgeschaut hatte (ein Beispiel findet ihr hier: https://youtu.be/AUUVfPy0UgI?si=Up2Z5VDy01iJSPPm).

Gerade bei Menschen mit Spina bifida ist das Anpassen des Rollis jedoch gar nicht so einfach, denn Verformungen der Wirbelsäule (Kyphosen und Gibbus, Verformungen zur Seite oder nach vorne), Beckenasymmetrien und Kontrakturen (=Versteifung: Funktionseinschränkungen von Gelenken z.B. durch Verkürzung von Sehnen, Muskeln und Bändern) beeinträchtigen die Beweglichkeit des Oberkörpers. Zudem sind ihre Proportionen oftmals so, dass der Oberkörper kürzer ist, die Arme jedoch normal proportioniert sind. Dies muss auf jeden Fall durch die Sitzhöhe ausgeglichen werden.

Bei Menschen, die einen Unfallquerschnitt erleiden, ist der Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen so, dass sie bereits direkt nach der Notfallversorgung einsetzen. Auch Physio- und Ergotherapie, ja sogar ein Rollstuhltraining gehören dazu, denn das Ziel der Reha-Maßnahmen ist es, den Menschen in den Alltag zurück zu helfen (mehr Infos dazu findet ihr z.B. hier). Nicht so bei Menschen mit Spina bifida, die unter einer angeborenen Querschnitlähming leiden.

Dabei sind Aktivität und Bewegung von zentraler Bedeutung für die Gesunderhaltung – auch oder gerade bei Menschen, die den Rollstuhl zur Fortbewegung nutzen. Wer regelmäßig Rollstuhlsport betreibt, so Dr. Martin, hat deutlich weniger Schulterschmerzen. Interessanterweise haben Menschen, die Rollstuhlsport im Leistungsbereich betreiben, im gleichen Ausmaß Probleme mit der Schulter wie eine Vergleichsgruppe an Fußgängern – obwohl man doch erwarten würde, dass durch den Leistungssport die Belastung der Schulter viel größer sein müsste als beim „durchschnittlichen“ Rollstuhlfahrer.

Auch die Nutzung eines Handbikes als alternative für längere Strecken aber auch im Alltag sei sehr empfehlenswert. Die Belastung ist hier gleichmäßiger, entspricht eher der Biomechanik der Arm- und Schultergelenke, und ist als Antrieb sehr viel effizienter als die Nutzung des Greifreifens.

Bei der Beantragung dieses Hilfsmittels bei der Krankenkasse solle – so Dr. Martin – unbedingt darauf hingewiesen werden, dass die Verordnung einer „beginnenden Para-Schulter“ entgegenwirkt.

Auch Elektroantriebe für den Rollstuhl sind sinnvoll, erhöhen sie doch die Reichweite ohne die Gelenke zu belasten. Sogar Modelle, die den Rolli sicher über Schotterwege und Absätze ziehen, werden angeboten. Im Beispielfilm der Fa. Wild West Wheelchairs aus Malaga, Australien (https://youtu.be/0KDD8ZsO_Vo?si=Fm2iurS1FLwMF86s) konnte man sogar sehen, dass selbst kleinere Bäche kein Hindernis mehr für den Rolli darstellen.

Der beste Weg, Schulterbeschwerden vorzubeugen und seinen „Motor“ so lange wie möglich nutzen zu können ist demnach:

  • Bei der Sitzposition auf den richtigen Winkel des Ellenbogens achten (100°-120°)
  • Eine Optimale Anpassung des Rollstuhls an die Anatomie des Menschen in jeder Lebensphase,
  • Bei der Anpassung evtl. auch Physiotherapeuten zu Rate ziehen
  • Wartung des fahrbaren Untersatzes (Luftdruck!)
  • Achten auf ergonomische Bewegungsabläufe (z.B. beim Umsetzen)
  • Regelmäßig Sport treiben
  • Alternative Antriebe nutzen

Zum letzten Punkt noch eine Anmerkung: es gibt durchaus bereits Alternativen für das Antreiben des Rollstuhls. Zum Beispiel wurde bereits ein Kurbelantrieb entwickelt, bei dem jeweils oberhalb des Rades eine Handkurbel die Kraft auf die Räder überträgt, sowie eine Variante, bei der mittels eines Getriebes der Reifen zur Vorwärtsbewegung gezogen werden kann, sodass die Bewegung der beim Rudern ähnelt (Rowheel). Aber hier ist sicher noch viel Spielraum für findige Tüftler.

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